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Einstürzende Bib-Bauten

Einstürzende Bib-Bauten 1200 1600 Fabian Bär

“Die Welt zerfällt in Tatsachen”, betont der Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem “Tractatus-Logico-Philosophicus”. Doch manchmal zerfallen auch Tatsachen in der Welt – beispielsweise Deckenplatten in der Hauptbibliothek, die in letzter Zeit Bestrebungen zeigen, den Weg Newton’scher Äpfel zu gehen. Symbol eines drastisch gefährlicher werdenden wissenschaftlichen Arbeitsumfeldes?

Das weströmische Reich fällt am 4. September 476, Konstantinopel fällt am 29. Mai 1453, und am 19. Juni 2018 gegen 22 Uhr fällt ein Teil der Decke im Lesesaal des Neubaus der Hauptbibliothek – glücklicherweise nur auf den Gang. Aber auch wenn in der Bibliothek nichts (und selbstverständlich auch niemand) auf Köpfe gefallen ist, lässt der Vorfall doch Fragen zurück. Wird sichergestellt, dass die Decke zumindest bis nach der nächsten Prüfungsphase hält? Können sich lerninteressierte Studierende in Zukunft überhaupt noch in die Bibliothek wagen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, gravitative Grüße von Oben zu erhalten? Und steckt ab jetzt vielleicht doch ein Stückchen Wahrheit in dem alten Sprichwort “wo gelernt wird, fallen Decken”?

Zumindest die ersten beiden Fragen können mit einem “Ja” und die letzte Frage mit einem “Nein” beantwortet werden. Seit dem Vorfall finden umfassende Arbeiten am und im neuen Lesesaal der Hauptbibliothek statt, vom 16. – 26. August ist er deshalb auch geschlossen. Man kann also davon ausgehen, dass in der nächsten Zeit zumindest baumaterielle Bedrohungen in der Bibliothek keine große Rolle mehr spielen werden. Aber sind die größten Gefahren, denen man sich im Rahmen eines Bib-Besuches aussetzen kann, damit tatsächlich gebannt?

Handelt es sich denn hierbei wirklich nur um Deckenteile, die dem Ruf der Schwerkraft folgen? Oder ist der Biber Deckensturz nicht möglicherweise vielmehr eine metall-, verputz-, und vereinzelt schraubengewordene Metapher für eine von vielen Studierenden verspürte Last aus Gegenwarts- und Zukunftsängsten, an der manche zu zerbrechen drohen? Eine Fallegorie für die Fragilität der Institution Universität, verbogen durch bolognesische Prozesse, belastet von politischen Forderungen nach Studiengebühren und (insbesondere in geisteswissenschaftlichen Studiengängen) generellen Existenzrechtfertigungen?

Fakt ist nämlich, dass einstürzende Bib-Bauten nicht die einzigen Sachen sind, die Studierenden Sorgen bereiten. Von abstrakten Fragen zur Sinnhaftigkeit des eigenen Studiums, über konkreten Druck, ausgelöst durch immer wiederkehrende Deadlines und Prüfungsphasen, bis hin zu pessimistischen Gedanken bezüglich der späteren Position auf dem Arbeitsmarkt kann die Aufnahme eines Studiums definitiv die Chance auf einen Geschenkgutschein für Sorgenkaufhäuser aller Art erhöhen.

In der Schöpfstraße 3, rund 14 Gehminuten von der Hauptbibliothek entfernt, bezeichnenderweise direkt hinter dem Gebäude des AMS Innsbruck, befindet sich der Innsbrucker Standort der Psychologischen Studierendenberatung, die für Studierende kostenlose Gespräche mit Psychologinnen und Psychologen anbietet. Ihrem Online-Auftritt zufolge leiden “ca. ein Viertel aller Studierenden” an psychischen Problemen “wie Ängste, Depressionen, Krisen, Essstörungen usw.” Laut einer Studie der deutschen Krankenkasse AOK fühlen sich 53% aller Studierenden einem “hohen” Stresslevel ausgesetzt.

Ist es dann nicht treffend, dass der Ort, an den viele belastete studierende Geister pilgern, in einer Spiegelung des Gemütszustands einiger seiner Besucherinnen und Besucher ebenfalls erste, durch enorme Last bedingte Zerfallserscheinungen zeigt – und dem Druck irgendwann nicht mehr standhält? Während das Eis über den dunklen Sorgenseen der Seelen vieler Studentinnen und Studenten stetig dünner wird und zu zerbrechen droht?

Die Welt zerfällt in Tatsachen. Und Tatsache ist, dass neben den physischen Gefahren zusammenbrechender Decken auch psychische Gefahren zusammenbrechender Nerven im Rahmen des Studiums aufkommen können. Gegen Erstere kann man sich mit einem Schutzhelm aus dem Baumarkt seines Vertrauens wappnen. Bei Letzteren ist es etwas komplizierter.

Der Tod und die Geiwi

Der Tod und die Geiwi 4466 2978 Fabian Bär

“Vanitas vanitatum et omnia vanitas.” Am Anfang des biblischen Buches Kohelet steht das Ende, und so lauten auch zentrale Botschaften dieser Schrift des Alten Testaments: Vergänglichkeit trifft alles und jeden, der Mensch ist Staub und wird zu Staub zurückkehren, es gibt nichts neues unter der Sonne. Neues gibt es hingegen unter den Füßen der Studierenden im Geiwi-Turm: Die Geiwi hat einen neuen Boden.

Es fällt auf, vieles ist anders geworden. Die Sitzgelegenheiten an den Fenstern sind vermehrt verschwunden, ein inzwischen berühmter neuer Hörsaal nummerns 5 ¾ ist aufgetaucht. Der Gang im Erdgeschoss ist offener, zügiger, der Boden ernster, grauer, härter. Auf den ersten Blick ein relativ normaler Boden. Aber ist dieser neue Boden in seinem Wesen nicht auch ein betretenes Symbol für den unaufhaltsamen Prozess der Veränderung, dem jeder Mensch im Leben unterworfen ist, und der letztendlich immer nur in eine, in jedem Fall tödliche, Richtung voranschreitet? Zwischen den nun ernsten grauen harten Fliesen fließen Fugen – Celans Todesfugen? Vermutlich nicht. Trotzdem kann es sich lohnen, darüber nachzudenken.

Ein mögliches Geo-Dreieck für die Konstruktion von etwas unkonventionelleren Winkeln, aus denen man auf das Leben, den Tod, und sowohl alte als auch neue Böden blicken kann, bietet beispielsweise ein sich seit seinem frühen Tod am Rande des Vergessenen bewegender Philosoph namens Philipp Mainländer. Im Zentrum seiner Philosophie und seines Lebens steht der Tod, das Ende, der Zerfall, die Vergänglichkeit. Vanitas. Alles Dasein ist für Mainländer dem Verfall und Zerfall unterworfen, aber nicht dem Zufall: Jeder Aspekt der Existenz befindet sich auf einer stetigen Wanderung auf dem Weg zum Gipfel des Berges der Nichtexistenz.

Die Entstehung der Welt ist bei Mainländer die Folge des Suizids Gottes, und so ist der Zerfall der Welt und aller ihrer Bewohnerinnen und Bewohner nicht aufzuhalten. Alles entsteht nur mit dem Ziel, nicht mehr zu sein. Jedes Lebewesen, jeder Geiwi-Turm, jeder Geiwi-Student und natürlich auch jeder (Geiwi- sowie Nicht-Geiwi-)Fußboden schreit in seinem Sein nach dem Nichtsein. Jede Geburt ist gleichzeitig ein Sterbefall, der erste Schrei des Säuglings beinhaltet das letzte Röcheln des Greises. Jeder neue Boden ist gleichzeitig ein zertrümmerter. Jede Veränderung an und in allem ist entweder Ausdruck des Nicht-Sein-Wollens aller Seienden, oder verzweifelter Verdrängungsversuch desselben. Philipp Mainländers letzter Akt – sein Suizid am Tag nach Erscheinen seines letzten Buches – fällt unter ersteres. Der neue Boden der Geiwi scheint hingegen beides zu sein: sowohl Verdrängung der Vergänglichkeit als auch Symbol derselben. Der alte Boden, die alte Geiwi ist tot, das Zeichen dieses Todes liegt uns zu Füßen. Aber ist das schon alles?

“Leben heißt Boden verlieren” schreibt passenderweise Emile Cioran, Autor von sowohl zum Schmökern als auch zum Selbstmord einladenden Büchern wie “Vom Nachteil, geboren zu werden”. Bedeutet Sterben dann im Gegenzug nicht, an Boden zu gewinnen? Auf den (und in den) immer neuen Boden der letzten, unvermeidbaren, und jedes Leben vollendenden Tatsache zurückgeholt zu werden? Die unausweichliche, harte, und definitiv nicht ungraue Realität des Todes zu betreten, in ihr aufzugehen – und damit auszugehen? Andererseits: wenn Leben Boden verlieren heißt – ist der Verlust des alten Geiwi-Bodens nicht doch auch Ausdruck des Lebens?

Letztendlich gibt der Tod zwar die Semesteranzahl des Bachelorstudiums unserer Existenz vor, aber es steht uns allen frei, zu entscheiden, mit welchen Vorlesungen, Proseminaren, und freien Wahlfächern wir die ECTS-Punkte der Lebenserfahrung sammeln. Er ist der Rahmen des Gemäldes unserer verfügbaren Zeit, aber wie es gemalt ist entscheiden wir selbst. Er ist die ultimative Grenze – sozusagen der Boden, auf dem wir alle gehen und vergehen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, den harten, grauen Fliesenboden des Todes als Teil des Geiwi-Turms unseres Lebens zu akzeptieren. Schritt für Schritt.