“Die Welt zerfällt in Tatsachen”, betont der Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem “Tractatus-Logico-Philosophicus”. Doch manchmal zerfallen auch Tatsachen in der Welt – beispielsweise Deckenplatten in der Hauptbibliothek, die in letzter Zeit Bestrebungen zeigen, den Weg Newton’scher Äpfel zu gehen. Symbol eines drastisch gefährlicher werdenden wissenschaftlichen Arbeitsumfeldes?
Das weströmische Reich fällt am 4. September 476, Konstantinopel fällt am 29. Mai 1453, und am 19. Juni 2018 gegen 22 Uhr fällt ein Teil der Decke im Lesesaal des Neubaus der Hauptbibliothek – glücklicherweise nur auf den Gang. Aber auch wenn in der Bibliothek nichts (und selbstverständlich auch niemand) auf Köpfe gefallen ist, lässt der Vorfall doch Fragen zurück. Wird sichergestellt, dass die Decke zumindest bis nach der nächsten Prüfungsphase hält? Können sich lerninteressierte Studierende in Zukunft überhaupt noch in die Bibliothek wagen, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, gravitative Grüße von Oben zu erhalten? Und steckt ab jetzt vielleicht doch ein Stückchen Wahrheit in dem alten Sprichwort “wo gelernt wird, fallen Decken”?
Zumindest die ersten beiden Fragen können mit einem “Ja” und die letzte Frage mit einem “Nein” beantwortet werden. Seit dem Vorfall finden umfassende Arbeiten am und im neuen Lesesaal der Hauptbibliothek statt, vom 16. – 26. August ist er deshalb auch geschlossen. Man kann also davon ausgehen, dass in der nächsten Zeit zumindest baumaterielle Bedrohungen in der Bibliothek keine große Rolle mehr spielen werden. Aber sind die größten Gefahren, denen man sich im Rahmen eines Bib-Besuches aussetzen kann, damit tatsächlich gebannt?
Handelt es sich denn hierbei wirklich nur um Deckenteile, die dem Ruf der Schwerkraft folgen? Oder ist der Biber Deckensturz nicht möglicherweise vielmehr eine metall-, verputz-, und vereinzelt schraubengewordene Metapher für eine von vielen Studierenden verspürte Last aus Gegenwarts- und Zukunftsängsten, an der manche zu zerbrechen drohen? Eine Fallegorie für die Fragilität der Institution Universität, verbogen durch bolognesische Prozesse, belastet von politischen Forderungen nach Studiengebühren und (insbesondere in geisteswissenschaftlichen Studiengängen) generellen Existenzrechtfertigungen?
Fakt ist nämlich, dass einstürzende Bib-Bauten nicht die einzigen Sachen sind, die Studierenden Sorgen bereiten. Von abstrakten Fragen zur Sinnhaftigkeit des eigenen Studiums, über konkreten Druck, ausgelöst durch immer wiederkehrende Deadlines und Prüfungsphasen, bis hin zu pessimistischen Gedanken bezüglich der späteren Position auf dem Arbeitsmarkt kann die Aufnahme eines Studiums definitiv die Chance auf einen Geschenkgutschein für Sorgenkaufhäuser aller Art erhöhen.
In der Schöpfstraße 3, rund 14 Gehminuten von der Hauptbibliothek entfernt, bezeichnenderweise direkt hinter dem Gebäude des AMS Innsbruck, befindet sich der Innsbrucker Standort der Psychologischen Studierendenberatung, die für Studierende kostenlose Gespräche mit Psychologinnen und Psychologen anbietet. Ihrem Online-Auftritt zufolge leiden “ca. ein Viertel aller Studierenden” an psychischen Problemen “wie Ängste, Depressionen, Krisen, Essstörungen usw.” Laut einer Studie der deutschen Krankenkasse AOK fühlen sich 53% aller Studierenden einem “hohen” Stresslevel ausgesetzt.
Ist es dann nicht treffend, dass der Ort, an den viele belastete studierende Geister pilgern, in einer Spiegelung des Gemütszustands einiger seiner Besucherinnen und Besucher ebenfalls erste, durch enorme Last bedingte Zerfallserscheinungen zeigt – und dem Druck irgendwann nicht mehr standhält? Während das Eis über den dunklen Sorgenseen der Seelen vieler Studentinnen und Studenten stetig dünner wird und zu zerbrechen droht?
Die Welt zerfällt in Tatsachen. Und Tatsache ist, dass neben den physischen Gefahren zusammenbrechender Decken auch psychische Gefahren zusammenbrechender Nerven im Rahmen des Studiums aufkommen können. Gegen Erstere kann man sich mit einem Schutzhelm aus dem Baumarkt seines Vertrauens wappnen. Bei Letzteren ist es etwas komplizierter.